U. Lindner: Koloniale Begegnungen

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Title
Koloniale Begegnungen. Deutschland und Grossbritannien als Imperialmächte in Afrika 1880-1914


Author(s)
Lindner, Ulrike
Series
Globalgeschichte 10
Published
Frankfurt am Main 2011: Campus Verlag
Extent
533 S.
Price
€ 49,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Ralph Erbar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Wer einen Blick auf die Karte des kolonialen Afrika in der Zeit des Hochimperialismus wirft, der wird rasch feststellen, dass die britischen und deutschen Kolonien häufig in unmittelbarer Nachbarschaft lagen. Dieser Befund und seine möglichen Hintergründe sind seit vielen Jahren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Die Historikerin Ulrike Lindner (Bielefeld) fügt mit ihrer an der Bundeswehr-Universität München angefertigten Habilitationsschrift über die Beziehung zwischen deutschen und britischen Kolonialherren sowie den Bewohnern der Kolonien eine weitere Studie hinzu.

In drei großen Kapiteln untersucht die Autorin Formen von Begegnungen im kolonialen Alltag, kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Kolonialherren und indigener Bevölkerung sowie die Herrschaftskonzepte der Kolonisierenden und deren Auswirkungen auf die Kolonisierten. Darin entfaltet sie ihre These, dass sich die beiden imperialen Nachbarn ständig kritisch beobachteten. Ihr gespanntes Verhältnis lässt sich mit grundsätzlicher Abgrenzung bei durchaus punktueller Kooperation umschreiben. Während auf deutscher Seite das Bild der liberalen und flexiblen britischen Kolonialverwaltung, der es an Gründlichkeit mangele, die Diskussion bestimmte, herrschte dagegen auf britischer Seite das Bild der wissenschaftlichen, gründlichen Deutschen mit Hang zum brutalen Militarismus und zur Bürokratiewut vor. Lindner gelangt zu den richtigen Ergebnissen, dass die Deutschen als Nachzügler unter den europäischen Kolonialmächten aufgrund ihrer Unerfahrenheit in kolonialen Verwaltungsfragen mehr Probleme als Lösungen geschaffen hätten und wegen ihrer Prestigesucht besonders anfällig für eine rassistisch begründete Form von Kolonialherrschaft gewesen seien. Sie greift dabei immer wieder auf Fallbeispiele aus Deutsch-Südwestafrika, etwa den Krieg gegen die Herero und Nama (1904-1907) zurück, übersieht aber, dass diese Siedlungskolonie die Ausnahme und nicht der Regelfall unter den deutschen Besitzungen in Afrika war.

Was leistet der verflechtungsgeschichtliche Ansatz von Lindner, der ausgewählte deutsche und britische Kolonien im Vergleich betrachtet, gegenüber der Betrachtung einzelner Kolonien? Am Beispiel des Herero-Nama-Krieges kann aufgezeigt werden, dass grenzüberschreitende Formen der Verständigung zwischen dem Deutschen Reich und Großbritannien, etwa in direkten militärischen und diplomatischen Kooperationen, durchaus vorhanden waren. Beide Kolonialmächte seien durchaus bereit gewesen, bei der Niederschlagung von Aufständen Hilfestellung zu leisten. Andererseits ist die Erhebungsgrundlage von nur vier Kolonialgebieten in Ost- und Südafrika (Deutsch-Südwestafrika, Britisch-Südafrika, Deutsch-Ostafrika und Britisch-Ostafrika), welche die ganz anders gearteten Bedingungen etwa im tropischen Westafrika außer Acht lässt, zu klein, um von da aus auf ein gesamteuropäisches Vorgehen in Afrika oder gar „Globalisierungstendenzen“ schließen zu können. Selbst für dieses überschaubare Feld überblickt die Autorin die Forschungen der letzten Jahre jedoch nicht, so fehlt etwa die über 600 Seiten starke und auf breiter Quellengrundlage erarbeitete Gesamtdarstellung zur Geschichte Deutsch-Südwestafrikas des Historkers Udo Kaulich aus dem Jahre 2001. 1 Dass sich Kolonialherrschaften nicht als monolithisch und starr verstehen lassen, wurde bereits wiederholt herausgearbeitet, zuletzt durch die Arbeit von Bettina Zurstrassen (2008), die ebenfalls nicht berücksichtigt wurde. 2 Von daher kommt Lindner fast zwangsläufig zu dem Ergebnis, ihre Studie würde „in vieler Hinsicht Neuland“ (S. 29) beschreiten. Immerhin ist sie so einsichtig, am Ende festzustellen, dass ihre Arbeit „sicherlich keine bahnbrechenden Ergebnisse“ (S. 467) erwarten lässt. Da mag man kaum widersprechen.

Korrekt ist das Ergebnis der Autorin, dass für das Deutsche Reich „Großbritannien stets als Bezugspunkt kolonialer Überlegungen“ galt, an dem sich die Deutschen „abarbeiteten, nachahmend und abgrenzend“ (S. 8). Die wichtige Frage, warum dies so war, bleibt jedoch unbeantwortet.

Eine mögliche Antwort entfaltete bereits 1993 der Historiker Axel Riehl in seiner voluminösen Dissertation „Der Tanz um den Äquator“ mit der sogenannten „Kronprinzen-These“. 3 Sie besagt im Kern, dass der antikoloniale Gegensatz zu England von Bismarck bewusst herbeigeführt worden war, um im Falle des 1884/85 ständig zu erwartenden Todes des greisen Kaisers Wilhelm I. dessen liberal gesinnten und anglophil eingestellten Sohn und Thronfolger Friedrich Wilhelm von einem liberalen Umbau im Innern Deutschlands und einem Bündnis mit dem liberalen England abzuhalten. Die These Riehls wurde 2011 von dessen Doktorvater Winfried Baumgart durch die umfangreiche Edition der dazugehörigen Quellen noch einmal untermauert. 4 Sowohl die Arbeit von Riehl als auch die Edition von Baumgart wurden von Lindner, die auf Bismarcks Kurswechsel von 1884 nicht eingeht, nicht zur Kenntnis genommen. Es ist ärgerlich, wenn eine Habilitandin samt ihrer Betreuerinnen die aktuelle Literatur der letzten Jahre nicht überblickt und damit zu lückenhaften Ergebnissen gelangt, die dem aktuellen Forschungsstand nicht entsprechen.

Anmerkungen:
1 Udo Kaulich, Die Geschichte der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (1884-1914). Eine Gesamtdarstellung, Frankfurt am Main 2001.
2 Bettina Zurstrassen, „Ein Stück deutscher Erde schaffen“. Koloniale Beamte in Togo 1884-1914, Frankfurt am Main 2008.
3 Axel Riehl, Der „Tanz um den Äquator“. Bismarcks antienglische Kolonialpolitik und die Erwartung des Thronwechsels in Deutschland 1883 bis 1885. Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Bd. 1, Berlin 1993.
4 Winfried Baumgart (Hrsg.), Bismarck und der deutsche Kolonialerwerb 1883-1885. Eine Quellensammlung. Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte Bd. 40, Berlin 2011.

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Published on
15.06.2012
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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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